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Neue Nachrichten aus der Region: Passend zur Adventzeit - der Engelsrotz!

11. 12. 2021

Ich betreue ja mit einigen Mitarbeitern der Novartis und dem Obst- und Gartenbauverein Öflingen ehrenamtlich die Entwicklungspflege der Novartis Natur-Erlebnis-Anlage. Diese Anlage dient uns als grosses Lern-Objekt, da hier eine vielzahl von einheimischen Wildpflanzen gepflanzt und gesät wurden.

Bei der Pflege konnten wir unten an dem grossen Sitzplatz etwas Ungewöhnliches entdecken. Es sah aus wie eine Alge, es sah unappetitlich aus, aber ich wusste es ist was Interessantes - meine Vermutung war ein Lebermoos, aber dafür war es viel zu trocken. Wir kannten es nicht und konnten es nicht zuordnen (siehe Foto).

Geht es euch auch manchmal so? Etwas unentdecktes, bisher unbekanntes - und dann liest man ein Buch oder googled und auf einmal kommt der Geistesblitz "DAS IST ES!" Ich finde das Gefühl hat etwas vom Entdeckergeist Humboldt`s (man fühlt sich als kleiner Naturforscher) - man fühlt sich irgendwie elektrisiert. Wer konnte sich vorstellen, dass wir das älteste landlebende Lebewesen gefunden hatten, welches Sauerstoff und Stickstoff binden kann. Die Lebensgrundlage aller menschlichen Aktivität.

 

Nun beim Lesen des Buches von Jan Haft auf Seite 123-125 geht die Geschichte los.

 

"Heute sehe ich einem Feldweg schnell an, ob er ein artenreiches Refugium ist oder nur eine unbelebte Verkehrsstraße für die Landwirtschaft. Es kommt nämlich sehr darauf an, wie die Äcker und Wiesen bewirtschaftet werden, die den Weg begrenzen. Davon hängt ab, ob sich auf einem Feldweg solch faszinierende und wundersame Arten entdecken lassen wie der Engelsrotz, der auch Sternenschnupfen genannt wird.

Kaum jemand kennt heutzutage diese bizarre Lebensform, und wahrscheinlich war sie früher den Menschen auch nicht viel geläufiger. Als die in der Landwirtschaft Beschäftigten noch zu Fuß unterwegs waren und mit Pferden und Ochsengespannen die Feldwege entlangrumpelten, dürfte der Engelsrotz jedoch fast allgegenwärtig gewesen sein. Es handelt sich dabei um einen Vertreter der Gattung Nostoc, eine Gruppe von Cyano- oder auch Blaugrünbakterien. Sie gehören zu den ältesten Lebensformen auf der Erde und existieren bereits vor unvorstellbaren 3 Milliarden Jahren. Damals gab es in der Atmosphäre noch gar keinen Sauerstoff. Direkte Nostoc-Vorfahren waren unter den ersten Organismen, die das für uns so lebensnotwendige O2 herstellten, in die Urzeitluft entließen und so den Grundstein legten für eine Welt, in der auch wir leben können. Erst 2.5 Milliarden Jahre später entwickelten sich die ersten primitiven Landpflanzen. Und bis die ersten Blütenpflanzen mit Nektar und Duft geflügelte Bestäuber anlockten, sollte es noch einmal ein paar Hundert Millionen Jahre dauern. Zeiträume, die wir uns nur sehr schwer vorstellen können.

Jedenfalls kann man Nostoc, diese faszinierende Organismengruppe aus dem Archaikum (einem sehr frühen Erdzeitalter), heute bei uns auf einem gewöhnlichen Feldweg antreffen - sofern hier nicht zu viel mit Spitzmitteln hantiert wird. Nostoc hat im Laufe der Evolution allerhand Schutzmechanismen entwickelt, um in diesem kargen Lebensraum existieren zu können (und hatte freilich auch reichlich Zeit dazu). Wenn die Sonne vom Himmel brennt, trocknet die Bakterienkolonie aus, wird papierdünn und brüchig, färbt sich schwarzbraun und liegt dem Untergrund auf wie verschüttete und eingetrocknete Farbe. Die Bakterien fallen dann in einer Art Schlaf und produzieren keinen Sauerstoff mehr. Aber wenn es regnet, dann geht´s los! Da quillt die hauchfeine Schicht auf und wirft den Motor des Lebens an. Die Kolonie ist ein paar Stunden nach dem Niederschlag fingerdick, sieht aus wie verkleckerte, grüne Götterspeise und betreibt Photosynthese, verarbeitet also Kohlendioxid und stellt Sauerstoff her.

Aber Nostoc kann noch mehr! Sogar etwas, das keine Pflanze schafft: Die Blaugrünbakterien vermögen reaktiven Stickstoff selbst herzustellen. Stickstoff ist ein gesuchter Nährstoff, der etwa für die Produktion von Proteinen und Chlorophyll benötigt wird. Aber Stickstoff ist von Natur aus Mangelware. Mit dem reinen Stickstoff aus der Luft können Pflanzen und Blaugrünbakterien nichts anfangen. Sie benötigen diesen Baustoff des Lebens in anderen Verbindungen, die sich leichter knacken lassen. Zum Beispiel die Kombination von Stickstoff und Wasserstoff (Ammonium und von Stickstoff und Sauerstoff (Nitrat). Und weil Nostoc über die Fähigkeit verfügt, aus Wasser und Luftstickstoff Ammonium herzustellen, sind einige Vertreter dieser Blaugrünbakeriengattung begehrte Symbiosepartner in der Pflanzenwelt. Nostoc commune, der Engelsrotz oder Sternenschnupfen, lebt jedoch für sich. Als unauffälliger Überzug auf dem Feldweg, der nach einem Sommergewitter plötzlich als grünes Häufchen Gallerte daliegt. Durchaus verständlich, dass die Menschen zu Zeiten vor der Aufklärung absurde Theorien parat hatten, um dieses wie aus dem Nichts auftretende Phänomen zu erklären.

Oder einfach Humor. (Zitat Ende)

 

Andere Volksnamen sind zum Beispiel Erdgallerte, Zitteralge, Schleimling, Wetterglitt, Pockensnot, Sternschnupfen, Sternschnuppe, Sternschott, Sternräuspen, Sternschnäuze, Sternenrotz, Sternglugge, Hexenkaas, Hexendreck, Hexengespei, Leversee, Lebersee, Libbersee (Marzell ) - s. Link.

 

Ich wünsche euch eine schöne Adventszeit und einen Guten Rutsch - euer Naturschutz-Engel.

 

 

Bild zur Meldung: Engelsrotz in der Novartis Natur-Erlebnis-Anlage - was ist das???